Kurz nach der Rückkehr von unserer großen Reise 2017 bemerkte ich, Evelyn, beim Training plötzlich eine Erschöpfung, die ich bestenfalls vom Ende eines Ultras kannte und war mir sicher, dass
irgendetwas nicht stimmte. Es folgte eine Ärzte Odyssee, bis letztendlich im August 2018 die Diagnose Diabetes Typ 1 feststand.
Nachdem zwischenzeitlich Schlimmeres vermutet wurde, waren wir erst einmal erleichtert, dass es „nur“ Diabetes ist. (und ich somit weder das Laufen noch das Reisen aufgeben muss.)
Bei einem Typ 1 Diabetes kann der Körper selbst kein (bzw. in meinem Fall derzeit noch sehr wenig) Insulin produzieren. Da dieses Hormon benötigt wird, um den Zucker aus dem Blut in die Zellen zu transportieren, muss dieses bei Diabetikern durch Spritzen zugeführt werden. Das heißt für mich einmal täglich ein 24 Stunden wirksames Insulin sowie zu jeder Mahlzeit abhängig von der aufgenommenen Kohlenhydratmenge eine gewisse Menge an schnell wirksamen Insulin spritzen zu müssen. Anderenfalls verbleibt der Zucker im Blut, was dauerhaft zu Folgeschäden an Blutgefäßen und Nerven führen kann, die im schlimmsten Fall mit Erblindung oder Amputationen einhergehen können. Wird jedoch zu viel Insulin gespritzt hat dies Unterzuckerungen zur Folge die schnell zur Bewusstlosigkeit führen können. Um all das zu vermeiden ist eine gute Einstellung unabdingbar.
Trotzdem wollte ich auf keinen Fall auf das Laufen oder Reisen verzichten und weiter unabhängig bleiben. Daher musste ich so viel wie möglich
verstehen und selbst steuern. Denn leider hängt der Insulinbedarf nicht nur von der Kohlenhydratmenge ab, sondern auch von der Tageszeit, Bewegung etc. Zudem muss das Timing stimmen, da das
Insulin zeitgleich mit dem Zucker ankommen sollte. All das ließ sich nur durch vorsichtiges Ausprobieren herausfinden.
Als nach einigen Monaten die Einstellung im Alltag funktionierte, begann ich wieder zu laufen. Die ersten Versuche waren frustrierend. Die Erschöpfung war zwar wie weggeblasen, aber die Werte sanken durch die Bewegung sehr schnell und ich musste alle 3 Kilometer anhalten, um mir in den Finger zu stechen und Blutzucker zu messen. Außerdem musste ich ca. alle 15 Minuten Traubenzucker essen um die Werte im grünen Bereich zu halten.
Wir mussten erst herausfinden, wie ich das Insulin vor dem Laufen reduzieren muss, dass ich während des Laufens ungefähr die Menge an Kohlenhydraten
zu mir nehmen kann, die ich brauche. Mit vielen Messungen und Geduld war ich zu Beginn des Jahres 2019 wieder bereit in das Training einzusteigen. Im März lief ich meinen ersten Wettkampf über 35
Kilometer, im Mai gewannen Kiwi und ich den Run and bike über 100 Kilometer in Neuzelle und im Juli war ich bereit für einen „richtigen“ Ultra.
Los geht es an einem heißen Juliabend in Linguaglossa, einer kleinen Stadt am Fuße des Ätnas. Mit einigen hundert Läufern stehen wir zusammen an der Startlinie und wundern uns noch, dass wir
dieeinzigen Läufer ohne Trailstöcke sind, aber es bleibt keine Zeit zu überlegen.
Der Blutzucker ist etwas zu hoch, was wahrscheinlich an der Aufregung liegt und ich spritze spontan noch etwas Insulin nach.
Der Startschuss fällt, die Stimmung ist super. Die Läuferschar schiebt sich im Dunkel der Nacht Weinberge hinauf, die bald Wäldern weichen. Das Läuferfeld zieht sich immer weiter
auseinander.In der nächtlichen Stille hört man jedoch immer wieder entfernt Stimmen und sieht die Stirnlampen der anderen wie Glühwürmchen im Wald. Bald folgen die ersten heftigen Anstiege, die
teilweise so steil sind, dass wir uns an den Bäumen festhalten müssen.
Nach einigen Stunden erreichen wir die ersten Lavafelder, die im Mondlicht geradezu mystisch wirken. Wir folgen dem Pfad durch große Lavabrocken und die meist spärliche Vegetation, die uns so faszinieren, dass es sich locker läuft und wir viele Teilnehmer überholen. Zwischendurch stoppen wir immer wieder um meinen Blutzucker zu messen, der sich glücklicherweise im geplanten Bereich befindet.
Zum Sonnenaufgang eröffnet sich ein phantastischer Ausblick, von dem wir auch Jahre später noch reden werden: wir haben beinahe den Gipfel des Ätnas erreicht und sehen von fast 3000 Metern im ersten Morgenlicht über das weite Mittelmeer und Sizilien. Wir halten einen Moment inne, bevor wir uns an den letzten Aufstieg zum Krater
aufmachen.Dieser führt extrem steil und windig über einen Kamm. Da man hier nicht überholen kann, sammeln sich einige Läufer. An Blutzucker messen ist hier nicht zu denken und ich esse einige
Gummibärchen um ja keinen Unterzucker zu riskieren. Oben angekommen erwartet uns der Veranstalter höchstpersönlich mit einigen Sixpacks Wasser in einem Schlafsack. Wie sie dorthin kamen ist uns
bis heute ein Rätsel,da die Stelle nur zu Fuß zu erreichen ist.
Hier kann ich endlich wieder Blutzucker messen und bekomme kurz darauf einen Schreck: Das Gerät zeigt einen extrem hohen Wert an. Während wir verzweifelt überlegen, was wir jetzt machen, fallen uns die klebrigen Gummibärchen ein. Ich wasche mir mit dem mühsam angeschleppten Wasser des Veranstalters die Hände und messe noch einmal. Gottseidank! Der Wert ist doch im normalen Bereich. Erleichtert gehen wir zurück auf die Strecke und stürzen uns ein Lavafeld mit knöcheltiefem Geröll bergab. Unten angekommen sind unsere Beine schwarz und die Fußgelenke dick wieElefantenbeine. Das am Seramis erinnernde Geröll hat sich in unseren Socken gesammelt und diese maximal gedehnt. Plötzlich verstehen wir auch warum der Veranstalter Gamaschen zur Pflichtausrüstung gemacht hat. Wir waren der Überzeugung, dass wir diese nicht unbedingt brauchen, weil wir bisher noch nie welche gebraucht haben. Außerdem wird Ausrüstung meist ja sowieso überbewertet. Wir haben es schließlich auch ohne Radhose auf dem Fahrrad von Bangkok nach Berlin geschafft. Wozu sollten wir dann Gamaschen benötigen? Die Antwort in Form von Unmengen reibender Steine begleitet uns von jetzt an weiter bergab bis wir schließlich gegen neun Uhr die Talstation erreichen.
Hier haben wir unsere Wechselkleidung deponiert und gönnen uns eine warme Mahlzeit. Über 50 Kilometer und etliche Höhenmeter sind geschafft. Der Blutzucker spielt weiter mit. Es wird zunehmend heißer und wir schauen, dass wir zurück auf die Strecke kommen, denn es ist Juli, wir sind in Sizilien und es gibt keinen Schatten. Zum Glück wissen wir nicht, was uns noch erwartet, denn wie wahrscheinlich die meisten Ultraläufer schaffen wir es, uns die Strecke schön und kurz zu lügen. Die fehlenden Kilometer bis ins Ziel sind schließlich auch nicht viel länger als eine Hausrunde um den Tegeler See und auf dem Ätna waren wir ja auch gerade schon oben. Die Aussicht dort oben war super, da können wir auch noch mal schnell hoch laufen. Ein kurzes Motivationstief folgt,als ein ewiger Anstieg, den wir für den zweiten Anstieg auf den Ätna halten, abrupt abfällt und wieder zur Talstation führt.
Auf ein Neues machen wir uns auf und kämpfen uns langsam wieder nach oben. Es folgen sehr schwere Abschnitte, die kilometerlang über große Steinbrocken führen und über die man fast klettern
muss.
Der Blutzucker ist weiterhin gut und es wird Zeit, dass ich das 24 Stunden wirkende Basalinsulin spritze. Das hatte ich absichtlich die letzten Tage so verschoben, dass dies in die zweite Hälfte
des Rennens fällt, da ich dann besser einschätzen kann wie stark das Insulin unter der zunehmenden Belastung wirkt. Ich spritze ca. 20 % der üblichen Menge um auf keinen Fall einen Unterzucker zu
riskieren.
So quälen wir uns in der Mittagshitze das zweite Mal den Ätna hinauf. Die Landschaft ist uns schon lange egal, als wir den Krater ein zweites Mal erreichen. Plötzlich steigt mit Getöse eine
Dampfwolke aus dem Krater, an dem wir ganz nahe sind.. Insgeheim freue ich mich unglaublich über die Eruption, denn uns wird sicher bald jemand von dem Berg holen und wir können die Beine
hochlegen und uns in unsere Unterkunft bringen lassen. Von oben sehen wir einen Verpflegungspunkt weiter unten am Hang. Als wir merken, dass das Team dort völlig unbeeindruckt seine Arbeit
fortsetzt und den Jeep leider nicht nutzt um uns hinterherzufahren und vom Berg zu holen, dämmert es uns, dass wir wohl weiterlaufen müssen. Durch die große Höhe bekommt Kiwi Kreislauf Probleme
und wir überlegen erneut, das Rennen abzubrechen. Wie immer schaffen wires unsgegenseitig zu motivieren und bald sind die Probleme überwunden und der höchste Punkt erreicht. Ab dann geht es nur
noch 30 Kilometer bergab.
Die Motivation ist plötzlich zurück und wir. rennen euphorisch über weitere Seramisfelder bergab und an der Talstation vorbei. Endlich gibt es wieder Bäume und Schatten. Nur noch 20 Kilometer, da sind wir ja spätestens in 2 Stunden im Ziel. Deswegen finde ich es auch gar nicht schlimm, dass mein Blutzucker an der Obergrenze festklebt und ich nichts mehr essen kann. Wir geben noch mal richtig Gas und warten auf den letzten Verpflegungsstand, der 10 Kilometer vor dem Ziel sein soll.. Aber der kommt und kommt nicht.. Da wir seit der Talstation locker 10, eher 15 Kilometer gemacht haben, müssen wir wohl daran vorbei gelaufen sein. Dann kann das Ziel ja nicht mehr weit sein. Zum Glück, denn langsam wird es richtig schwer. Die Euphorie ist schon lange wieder verflogen und wir schleppen uns mehr Richtung der nahe gewähnten Ziellinie als plötzlich der Verpflegungspunkt auftaucht. Wir können es kaum glauben und fragen bestimmt drei Mal nach, ob es wirklich noch 10 Kilometer bis ins Ziel sind. Die Antwort „ No, no its a bit more, maybe 13“ lässt uns dann vollständig vom Glauben abfallen. Unsere Wahrnehmung ist wohl schon ziemlich verzerrt und wit sind wohl seit der Talstation weder besonders schnell noch weit voran gekommen. Und plötzlich liegen wieder 13 Kilometer vor uns, die am Ende eines Ultras oft schwerer sind als die ersten 50.
Als ich mich kurz darauf zum Schuhe binden hinsetzen muss, sehe ich gar keinen Sinn mehr darin, wieder aufzustehen und weiterzulaufen. Die schönen Landschaften liegen hinter uns, auf den kommendenKilometern wird außer quälen nicht mehr viel passieren und ob wir auf irgendeiner Finisher Liste erscheinen ist auch egal. Dieses Mal schafft es Kiwi mich wieder anzutreiben. Wir fangen wieder an zulaufen und überholen das vor uns gehende Läuferfeld, wodurch einige noch einmal mit uns lostraben. So quälen wir uns schließlich alle gemeinsam durch die hereinbrechende Dunkelheit in Richtung Linguaglossa. Als wir die ersten Häuser erreichen gibt es kein Halten mehr, wir geben noch einmal alles. Überglücklich fallen wir uns nach 21 Stunden auf der Strecke im Ziel in die Arme! Völlig unerwartet wurde ich sogar fünfte Frau insgesamt und erste Deutsche.
Der Etna Trail war definitiv einer der besten Läufe, die wir je gemacht haben. Extrem fordernd, dazu spektakuläre und abwechslungsreiche Landschaften, gute Organisation und Verpflegung. Und mein
erster Ultra mit Diabetes. Wir sind glücklich, dass die Einstellung so gut geklappt hat und der Diabetes trotz der nervigen Messungen einfach neben her lief. Nächstes Mal wissen wir dann, dass
ich das Basalinsulin etwas weniger reduzieren muss, um am Ende noch essen zu können. Und wozu wir Gamaschen und Stöcke brauchen.
Aber am bzw. auf dem Ätna waren wir definitiv nicht das letzte Mal!
Seit der Diagnose und dem ersten Ultra ist einige Zeit vergangen. Inzwischen habe ich einen Sensor im Bauch der den Gewebezucker alle fünf Minuten misst und an das Handy bzw. Apple Watch meldet. Somit kann ich sorgenfrei laufen und muss nur noch Kohlenhydrate zu mir nehmen und wenn der Sensor Alarm schlägt.
Natürlich gibt es nun bei der Planung von Training und Reisen mehr zu berücksichtigen und es ist kein schönes Gefühl, auf Hilfsmittel wie Insulin und Sensoren angewiesen zu sein. Dennoch empfinde ich den Diabetes als weniger einschränkend als von vielen angenommen wird. Ich würde niemals sagen, dass ich an Diabetes "leide“ denn ich kann damit sehr gut leben, es geht mir gut und ich kann alles machen, was ich möchte!
Natürlich kann es sein, dass mit fortschreitender Diabetesdauer Langzeitfolgen auftreten, aber ich versuche dies an den Stellen, an denen es möglich ist, nämlich der guten Einstellung, positiv zu beeinflussen. Alles andere liegt ohnehin nicht in meiner Hand, daher würde mir die Angst davor nur negative Gedanken bringen, die aber das Ergebnis nicht beeinflussen.
Daher versuche ich positiv zu bleiben und bemühe mich um gute Blutzuckerwerte!